Der Mensch und die „Beseeltheit“ der Natur

Es ist bekannt, dass alle Völker zu Zeiten an Geistwesen glaubten, die sie in der Natur wahrnahmen. Sie suchten bei diesen Hilfe, verehrten sie, erwarteten von ihnen Fruchtbarkeit und Wohlstand und versuchten sie auf verschiedene Art und Weise milde zu stimmen. In Europa endete diese Art der Wahrnehmung der Natur, die man auch als Naturreligion bezeichnen kann und wissenschaftlich als Animismus oder Schamanismus beschrieben wird, mit der allgemeinen Christianisierung. Reste dieser Erfahrungen fanden Eingang in Märchen, Sagen und Legenden. Auch im Brauchtum (Perchtenläufe, Flurumgänge, Heiligenanrufungen) sind Spuren davon erhalten. Besonders lebendig geblieben sind diese Traditionen im Norden Europas, vor allem in Island und Irland, doch auch in Norwegen und Schweden ist die Erinnerung an die „Tomtes“ und „Trolle“ im kulturellen Bewusstsein relativ wach. Außerhalb Europas ist ja in Afrika, Lateinamerika und Asien der Glaube an Geistwesen in der Natur noch heute überaus weit verbreitet.

Ebenso  bekannt ist, dass es zu allen Zeiten Personen gab, die nach ihren eigenen Schilderungen die Natur als beseelt erlebten. Zur Zeit der Inquisition waren diese in Europa den Angriffen seitens der Kirche besonders ausgesetzt,  während sie bis in die heutige Zeit mit Unverständnis rechnen müssen, sofern sie nicht sogar gesellschaftliche Ächtung zu fürchten haben.

Hingegen gibt es bedeutende kulturelle Zeugnisse, dass die Welt der Naturgeister auch in Europa unter der christlichen Oberfläche nie ganz verschwand. In Shakespeares „Sommernachtstraum“ und Goethes „Faust“ fanden die Legenden um die Geister-, Feen- und Elfenwelt Eingang in die Weltliteratur. Durch die Bewegung der Romantik im 19. Jahrhundert kam es mit der Renaissance der Märchen auch zu einer breiten Wiederbelebung dieser Ideen, die somit Eingang fanden auch in die Philosophie sowie in verschiedenste Bereiche der Kunst. Und noch bis heute bleibt diese Welt der zarten Wesen der Natur für viele Menschen ein Objekt der Träume und der Sehnsucht.

Desungeachtet passten Naturgeister weder in die Anschauung christlicher Amtskirchen noch in das sich im 19. Jahrhundert ebenfalls voll ausprägende wissenschaftliche Weltbild. Und bis heute, obwohl das Religionsmonopol der Kirchen aufgebrochen ist und das materialistische Weltbild durch die Erforschung der Quantenphysik längst tiefe Risse bekommen hat, steht die Öffentlichkeit weitgehend skeptisch und hilflos Menschen gegenüber, die für sich in Anspruch nehmen, Naturwesen sehen und mit ihnen kommunizieren zu können. Die Skepsis rührt in den meisten Fällen daher, dass das Erleben dieser Wenigen nicht in das naturwissenschaftliche Weltbild der Gegenwart eingeordnet werden kann. Noch nie jedoch hat sich eine Ablehnung, die nicht aus sachlichen, sondern rein ideologischen Gründen erfolgte, als dauerhaft haltbar erwiesen. Was es auch war, das heliozentrische Weltbild oder die Einsicht von der Unrechtmäßigkeit der Sklaverei, die zahlenmäßige Unterlegenheit der „Sehenden“ im Verhältnis zu den „Nichtsehenden“ hat auf lange Sicht das „Einsehen-Müssen“ der Mehrheit noch nie verhindern können! So wird auch in diesem Fall kein Weg daran vorbei führen, sich mit dem Erleben von Menschen, die tiefer zu blicken vermögen als nur bis zur stofflichen Oberfläche, sachlich auseinander zu setzen.

Erinnern wir uns: Vor wenigen Jahrzehnten noch wurden auch Umwelt- und Naturschützer als weltfremde Schwärmer betrachtet. Heute erkennen doch weite Teile der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der Öffentlichkeit, wie bitter ernst die Anliegen der Natur genommen werden müssen, um ein Überleben der Menschheit zu ermöglichen. Das Beklagen der vertanen Chancen seit den 1980er Jahren kommt heute zu spät und ist müßig; aber umso notwendiger ist es nun, in die Zukunft zu blicken! Wenn sich nun, um „fünf nach zwölf“, in den Menschen endlich doch noch die Erkenntnis durchsetzen würde, dass ihnen in der Natur ein vernunftbegabtes Gegenüber zur Verfügung steht, mit dem die vor uns liegenden Probleme partnerschaftlich und im wörtlichen Sinne im Dialog gelöst werden könnten – welche Möglichkeiten würden sich dadurch eröffnen! Selbstverständlich wird dann aber auch die Forderung an uns herantreten, den menschlichen Herrschaftsanspruch aufzugeben und der Natur und ihren Wesen die ihnen zustehenden Rechte einzuräumen.

Der Elfenfreund                                                                                 Oktober 2012