Dora van Gelder zitiert

April 2014

Baumgeister

Wir verlassen die uns vertrauten Gärten mit den kleineren Pflanzen und wenden uns dem Wald zu. Es sei betont, dass Bäume von unseren Vorstellungen abweichen. Sie sind genau wie wir Lebewesen, besitzen allerdings einen geringeren Grad von Bewusstsein und reagieren auf Sinnesreize nicht so schnell, wie wir es tun. Wie ich schon sagte, befindet sich im Baum der Baumgeist, der ihn mit Lebensenergie versorgt. Es gibt keinen Baum, und wäre er noch so klein, ohne einen Baumgeist; der Baumgeist wächst mit dem Baum und hört nach dessen Absterben zu existieren auf. Wenn er es für richtig hält, kommt der Baumgeist aus dem Baum heraus und nimmt dann gewöhnlich eine mehr oder weniger menschliche Gestalt an.

Innerhalb des Baumes ist seine Gestalt praktisch unsichtbar. Er nimmt nur außerhalb des Baumes Form an. Den meisten Baumgeistern ist eine große, bräunliche Gestalt eigen, die etwa den ersten Zeichnungen gleicht, die ein Kind vom Menschen anfertigt – viereckig, etwas dick, mit kleinen Augen, einer Nase, die der Vorstellung eines Kindes entspricht und schwarzen, faserigen Haaren – alles in allem eine Form, wie sie in wenigen groben Linien von Kinderhand zu Papier gebracht wird. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um eine sehr allgemeine Beschreibung der Baumgeister.

Die Baumgeister der einzelnen Bäume wie Eichen, Pinien, Birken usw. weisen unterschiedliche arttypische Merkmale auf, und einige Bäume scheinen mehr Persönlichkeit zu besitzen als andere, so wie es auch für den Menschen zutrifft.

Gewisse Bäume sind einzigartige Individuen, während andere sich nur unwesentlich voneinander unterschieden.

Der Großteil des Wirkens der Baumgeister vollzieht sich, während sie sich im Baumkörper (Stamm) befinden. Sie sehen nach dem Baum und überwachen seine Energieströme. Diese Vorgänge sind gleichzusetzen mit der Erhaltung des menschlichen Körpers, jedoch bezieht der Baum seine Nährstoffe aus der Erde, dem Wasser und der Luft. Sind diese gut und in ausreichendem Maße vorhanden, wächst und gedeiht der Baum und er Baumgeist ist glücklich. Seine Zufriedenheit wirkt sich wiederum auf die chemischen Abläufe innerhalb des Baumes aus und verhilft ihnen zu größerer Wirksamkeit. Es ist wie bei einem Menschen, der seine Mahlzeit in Ruhe einnimmt und mit Wohlbehagen verarbeitet, was wiederum die Verdauung anregt, wiewohl Unruhe und Sorgen sie beeinträchtigen – obwohl ein Baum natürlich keine Sorgen kennt. Wenn der Baumgeist in gewissen Zeitabständen zum Vorschein kommt, geschieht dies aus mehreren Gründen. Er mag z.B. einen Menschen erblicken, dem seine Zuneigung gilt und herauskommen, um ihn näher anzusehen und seine Zuwendung auszudrücken. Saß ich unter einem Baum, geschah es oft, dass der Baumgeist erschien, um seine Sympathie zu zeigen. Dies geschah in zarter Manier und er mag einem mitunter sogar einige Meter folgen. In der Nacht erübrigen die Baumgeister mehr Zeit und Gelegenheit für das Gemeinschaftsleben.

Sie alle kommen aus den Bäumen heraus, und wenn der Mensch, dem ihre Zuwendung gilt, sich gerade im Haus aufhält und der Baum nicht allzuweit davon entfernt steht, beginnt der Baumgeist, ihn zu suchen.

Ich glaube, dass die Leute sich deswegen des Nachts im Wald fürchten, da alle diese Wesen aus ihren Bäumen herauskommen und man das Gefühl hat, von unsichtbaren Präsenzen umgeben zu sein. Vielen Leuten scheint es, als ob tausend Augenpaare sie ansehen würden, was tatsächlich der Wahrheit entspricht. Ich glaube nicht, dass Baumgeister jemandem im Wald Schrecken einjagen würden, doch ihre Schwingungen sind so anders als unsere, dass uns die Gänsehaut über den Rücken läuft. (…)

In einem kleinen Wald fiel mir eine prächtige Eiche auf, ein Baum, dessen Baumgeist etwa 4,50 Meter groß war und der menschliche Züge westlicher oder europäischer Prägung trug. Sie Gesicht war oval und ebenmäßig zu nennen, er hatte ein angenehmes Äußeres und glich ziemlich dem Menschen. (…) Ich beobachtete noch niemals Baumgeister, die nicht bis zu einem gewissen Grad eine braune Tönung aufwiesen, obwohl es hier viele Variationen vom Rotgold der Redwoodbäume bis zum Graubraun der Birke gibt. (…)

Im allgemeinen ist die Form eines Baumgeistes, während er im Baume weilt, runder und passt sich den Konturen des Baumes an. Tritt er aus dem Baum hervor, nimmt er eine schmale Gestalt an. (…)

Die Baumgeister vermerken das Abholzen der Bäume mit Unwillen. Es macht ihnen mehr zu schaffen als den Elfen das Abschneiden der Pflanzen und Blumen, da das Leben der Baumgeister eng mit der Existenz des Baumes verknüpft ist.

Man verspürt in diesem Wald, der nicht weit von der Zivilisation entfernt und der ursprünglicher und urwüchsiger als ein Stadtpark ist, ein Gefühl der Erwartung. Aufgrund menschlichen Eingreifens ist die Lebensdauer eines Baumes unbestimmt. Dieser Wald strahlt eine Atmosphäre der Kraft und Stärke aus. Die Bäume wachsen nebeneinander und erweisen einander viel Aufmerksamkeit, zeigen aber auch entschiedenes Interesse am Menschen; sie betrachten den Menschen als Eindringling. Menschen denken im Zusammenhang mit Bäumen an Brennholz, an Schatten oder dekorative Gegenstände und sehr selten an prächtige Individuen oder Lebewesen. Bäume spüren dies, und in ihnen entwickelt sich ein enger Gemeinschaftsgeist. Ihnen wird bewusst, dass zwischen ihrer Welt und der des Menschen eine große Kluft besteht.

Ich möchte betonen, dass Bäume sehr langsam reagieren, und es lange dauert, bis sie neue Erfahrungen verarbeitet haben. Ihr Verständnis ist begrenzt, und wenn wir von ihnen als denkende oder fühlende Wesen reden, dann heißt dies, dass sie im Vergleich zum Menschen mit verschwommenem Bewusstsein reagieren. Außerdem gibt es zwischen den einzelnen Bäumen Unterschiede. Holzt man einen Wald unbarmherzig ab, empfinden die verbliebene Bäume gemischte Gefühle des Verletztseins, des Verlustes und der Isolation, obwohl sie sich der Unvermeidlichkeit dieser Dinge in der Natur bewusst sind.

(Aus: Dora van Gelder, Im Reich der Naturgeister. Aquamarin Verlag, 3. Auflage 1995, S. 82ff. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.)