Ursula Burkhard zitiert

 

Dezember 2013

„Bild und Wesen

Da steht er nun vor mir auf dem Tisch, greifbar als kleine Gestalt aus Wachs. Wenn andere Menschen kommen und ihn sehen, sagen sie: „Das ist ein Gnom.“

Ich müsste mich eigentlich freuen darüber, dass sie erkennen, was ich zu formen versuche. Die Begegnung mit einem wirklichen Gnom hat mich ja dazu angeregt. Aber da ist noch etwas Unbefriedigendes, das sich schwer in Worten sagen lässt. Die Feststellung: „Das ist ein Gnom“ stellt das Elementarwesen fest umrissen in unsere Welt hinein und macht die Wachsfigur zu etwas Endgültigem. Darum ergeben sich aus der Betrachtung auch gleich Fragen wie: „Ist er in Wirklichkeit groß oder klein? Erleben Sie die Begegnung mit ihm wie das leichte Kitzeln einer Fliege?“

In Wirklichkeit ist er weder groß noch klein, er ist überhaupt nicht messbar. In Wirklichkeit ist er nicht sichtbar für Augen, nicht greifbar für Hände. Darum ist es ihm auch nicht möglich, mich wie eine Fliege leicht zu kitzeln, obwohl er Menschen gern neckt. Meine Haut kann nicht spüren und nicht gekitzelt werden von etwas, das stofflich gar nicht existiert. In Wirklichkeit kann er nicht so verfestigt auf dem Tisch stehen; er nimmt überhaupt keinen Platz ein und ist an keinen Ort gebunden. Ich vermag niemals, ihn so darzustellen, wie er in Wirklichkeit ist.

Warum habe ich es dann trotzdem versucht? Diese Frage stellen mir Besucher, wenn sie meine Wachsfiguren betrachten, und oft beschäftigt sie mich auch selber.

Wie ein Bild oder eine Gebärde deutet die Gestalt vor mir auf dem Tisch hin auf das Wesen „Gnom“. Sie ist Ausdruck für mein Erlebnis, meine Begegnung mit ihm. Aber sie kann anderen Menschen nicht die eigene Wahrnehmung ersetzen. Wer ein Lebewesen oder einen Gegenstand mit seinen äußeren Sinnen wahrnimmt und sich dazu die richtigen Gedanken bildet, kommt zu klaren Begriffen. Wer jedoch dasselbe versucht mit Abbildungen von Elementarwesen, macht sich falsche Vorstellungen von einer Welt, die etwas ist aus feinen, der äußeren Welt vergleichbaren Stoffen. Die so vorgestellt Welt ist gespenstisch, nicht geistig.

Die Figur, die wie ein Bild oder eine Gebärde auf das Wesen „Gnom“ hindeutet und so Ausdruck meiner Begegnung mit ihm ist, vermittelt dem unvoreingenommenen Betrachter eine Stimmung, ein neues Gefühl. Ich könnte von dem Gnom erzählen, anstatt ihn zu plastizieren. Aber auch dann wäre eine naturalistische Schilderung nicht möglich, ich müsste in Gleichnissen sprechen. Unsere Sprache eignet sich besser für die Beschreibung der äußeren, sichtbaren Welt. Schon seelische Erlebnisse , die einer inneren, unsichtbaren Welt angehören, lassen sich oft nur bildhaft mitteilen. Manchmal werden uns Sprachbilder so zur Gewohnheit, dass wir sie gar nicht mehr als solche empfinden. Jemand hat es schwer, ein Stein liegt ihm auf dem Herzen. Für das Gewicht, das ihn bedrückt, gibt es keine Waage, und auch die Erleichterung nach der Depression ist nicht messbar. Was sich nicht in Sprachbildern oder Gleichnissen sagen lässt, teilen Blicke und Gebärden mit, vielleicht der Ton der Stimme, das Stocken der Rede, eine längere Pause oder beredtes Verstummen. Und dann kann es geschehen, dass der zuhörende Mitmensch die Hand des Schweigenden ergreift und das Unsagbare versteht durch alles, was wie ein Bild darauf hindeutet. Nicht mit dem Intellekt versteht er, aber indem er sich einfühlt in den andern.

Etwas Verwandtes können wir uns vorstellen in der Begegnung mit Elementarwesen, ein einfühlendes Miterleben des geheimnisvollen Naturgeschehens. So stark kann dieses Einfühlen werden, dass es sich zu einer Art Bild verdichtet und hinweist auf etwas Wesenhaftes. Wer diese ersten, flüchtigen Eindrücke immer wieder zu erleben sucht und sich so einstimmt auf ein tieferes Begegnen mit der Natur, kommt nach und nach vom Bild, vom Wesenhaften, zum Wesen. Nur große Liebe und Hingabe kann zu diesem Ziel führen.“

(Aus: Ursula Burkhard. Karlik. Begegnung mit einem Elementarwesen. Werkgemeinschaft Kunst und Heilpädagogik, Weißenseifen 1991, S. 5 ff; mit freundlicher Genehmigung des Verlages)